Pakhtoon Magazine
[14.Jun.2025 - 14:42]PAKHTOON MAGAZINE
Gründer: Bacha Khan
Deutsche Ausgabe: Nr. 1 Dezember 1981
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Kurze Einführung in die afghanische Gesellschaft
Von Kabir Stori
Im Gegensatz zur Industriegesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist Afghanistan eine Agrargesellschaft mit einer breiten Unterschicht, einer schmalen Mittelschicht und einer dünnen Oberschicht.
„Die große Masse der Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter, der Wanderhirten mit geringem Viehbesitz, der Gelegenheitsarbeiter, der mehr oder weniger abhängigen Handwerker und Einzelhändler sowie der ungelernten Staatsbediensteten bildet die Unterschicht – fast 95 % der Bevölkerung.
Die Mittelschicht bilden auf dem Lande die Familien mit größerem Grundbesitz und in den Städten die unabhängigen Handwerker.“ (Krause, 1972, S. 204)
Zur Oberschicht gehören die Stammesfürsten, Großhändler und Beamten mit höherem Rang.
Vergleicht man die dreistufige Schichtung der afghanischen Gesellschaft mit derjenigen der Bundesrepublik Deutschland, so stellt man fest, dass die Unterschicht in Afghanistan nicht nur breiter und die Mittelschicht schmaler ist, sondern dass ein zur Mittelschicht gehörender Afghane dem sozialen Niveau eines zur Unterschicht gehörenden Deutschen entspricht. Es liegt somit eine Verschiebung der Gesamtschichtverteilung vor.
Die Bevölkerung Afghanistans gliedert sich in etwa 30 verschiedene ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen, Sitten und Gebräuchen. Dies ist auf zahlreiche Völkerwanderungen und Eroberungszüge nach Indien über Afghanistan zurückzuführen. (Hayatullah, 1967, S. 48)
Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind die Paschtunen, Belutschen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen und Hazara.
Die Paschtunen sind die eigentlichen Afghanen, nach denen das Land Afghanistan benannt ist.
„Der iranische Westen nennt sie Afghanen, der indische Osten Pathanen oder ebenfalls Afghanen. Sie selbst bezeichnen sich als Paschtunen oder, in den nordöstlichen Siedlungsgebieten, wo die härtere Aussprache überwiegt, als Pachtunen.“ (Klimburg, 1966, S. 284)
Obwohl bis heute keine Volkszählung stattgefunden hat, schätzt man die Zahl der Paschtunen auf über 30 Millionen. Die Hälfte von ihnen lebt in Pakistan
Daneben gibt es zwei bis drei Millionen paschtunische Nomaden, die keinen festen Wohnsitz haben. Sie wandern je nach Jahreszeit zwischen Afghanistan und Pakistan. Über den Anteil der sesshaften Paschtunen in Afghanistan gibt es unterschiedliche Schätzungen in der Literatur. Allen ist jedoch gemeinsam, dass die sesshaften Paschtunen über 65 % der Gesamtbevölkerung ausmachen sollen.
„Die Paschtunen oder ‚echten‘ Afghanen (im Unterschied zu den ‚unechten‘, also den nicht-paschtunischen Staatsangehörigen Afghanistans), die verwirrenderweise häufig auch als Paschtunen oder Pathanen Erwähnung finden, bilden das stärkste ethnische Element im Land.“
(Klimburg, 1966, S. 110–111)
Die Paschtunen leben – sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan – nach den Gesetzen des Paschtunwali, das die ungeschriebene Verfassung der Paschtunen darstellt. Es enthält nicht nur eine Reihe von Ehrenwerten Eigenschaften, die alle Paschtunen, ob arm oder reich, besitzen sollen, sondern auch eine bestimmte Anzahl von Regeln, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Die höchste Instanz des Paschtunwali ist die Ratsversammlung, Dschirga, die politische, rechtliche und soziale Beschlüsse fasst und durchführt. Eine Angelegenheit wird so lange diskutiert, bis Einstimmigkeit erreicht ist.
„Der demokratischen Einstellung der Freien gemäß – und zur Vermeidung von Eifersüchteleien – hat die Dschirga weder eine Sitzordnung noch einen Vorsitzenden. Man sitzt im Kreis auf herrenlosem, folglich neutralem Boden, und jeder kann aufstehen und das Wort ergreifen, kommen und gehen, wann immer er will. Für die Beschlüsse einer Dschirga ist nicht die Stimmenmehrheit – es wird nie abgestimmt –, sondern das Fehlen einer offenen Opposition maßgebend.
Die Befolgung der Beschlüsse gilt als wichtige soziale Pflicht der Männer. Zuwiderhandelnde laufen Gefahr, geächtet zu werden. Weigert sich zum Beispiel im Falle eines ‚Strafprozesses‘ der Angeklagte, die durch Dschirga-Beschluss festgelegten Wehrgeldzahlungen an den Kläger zu leisten, hat Letzterer das Recht,“ (Klimburg, 1966, S. 122), sich das ihm Zustehende mit Unterstützung der Öffentlichkeit gewaltsam vom Pflichtvergessenen zu holen.
Die Ratsversammlung ist keine ständige Institution, sondern eine provisorische Versammlung zur Lösung eines bestimmten Konflikts. Sie hat keinen zentralistischen Charakter. Deshalb ist jede Dschirga unabhängig von anderen, ebenso wie ihre Beschlüsse..
Beschlüsse anderer Dschirgas (Jarga) über ähnliche Fälle können jedoch als Grundlage für neue Entscheidungen dienen. Wiederholen sich ähnliche Urteile in mehreren Dschirgas, können daraus allgemeine Regeln entstehen.
Die Beschlüsse einer Dschirga gelten lediglich im Einflussbereich der jeweiligen Versammlungsteilnehmer.
Jeder Paschtune hat das Recht, an einer Dschirga teilzunehmen, denn laut den Ehrenwerten Eigenschaften sind alle Paschtunen gleich. Die jungen Teilnehmer übernehmen meist eine Zuhörerrolle, obwohl sie ebenfalls das Recht besitzen, sich zu Wort zu melden. In der Regel ergreifen jedoch die älteren Männer das Wort und spielen die dominante Rolle.
Daraus ergibt sich, dass die „Richter“ des Gerichtshofs des Paschtunwali die alten Männer sind, die über Rechte, Pflichten, Sitten und Normen der Paschtunen wachen.
Die Größe einer Dschirga richtet sich nach der Bedeutung des Konflikts – sie reicht von zwei Personen bis zu mehreren Millionen Paschtunen. Eine Dschirga kann durch den Angeklagten, den Kläger oder eine dritte Person einberufen werden. In wichtigen Fällen kommt sie auch spontan zusammen.
Das Paschtunwali wird jedem Paschtunen von Kindesbeinen an eingeprägt. Die Lernstätten des Paschtunwali sind die Familie, das Gästezimmer (Hujra) und der Sommergarten für Gäste (Dira).
Die paschtunische Familie entspricht nicht dem westlichen Typus der Kleinfamilie. Man kann sie als „erweiterte“ oder „Verbandsfamilie“ bezeichnen, in der mehrere Brüder mit ihren Frauen und Kindern sowie ihren verheirateten Söhnen, Töchtern und deren Kindern zusammenleben – eine Familiengruppe.
Jedes Familienmitglied hat eine festgelegte Stellung.
Einige haben untergeordnete, andere übergeordnete Rollen – wobei das Alter Vorrang hat. Eine Ausnahme bildet das weibliche Geschlecht, das der Autorität der Männer untergeordnet ist. Allerdings besitzen ältere Frauen (Mütter, Großmütter, Urgroßmütter, Tanten) eine gewisse Autorität. Das Familienoberhaupt ist der älteste Mann, dessen Anordnungen und Einfluss sich alle Familienmitglieder unterwerfen.
Die niedrige Stellung der Frau ist nicht nur auf die Regeln des Paschtunwali zurückzuführen, sondern auch darauf, dass Frauen aufgrund des Arbeitsmangels kaum eigene Verdienstmöglichkeiten haben und daher in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Männern leben.
Zudem existiert in Afghanistan und Pakistan keine Altersversicherung. Die männlichen Kinder gelten daher aufgrund ihrer Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten als eine Art soziale Absicherung für die Eltern. Dies führt zu einer geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Behandlung ab Geburt.
Die Rolle und Stellung der einzelnen Familienmitglieder in der Gesellschaft hängt von der Position ihrer Familie innerhalb der sozialen und stammesbezogenen Struktur ab.
So kann eine Familie mit vielen männlichen Angehörigen und Stammesmitgliedern, obwohl sie zur Unterschicht gehört, in ihrer gesellschaftlichen Rolle einer kleineren Familie der Mittelschicht gleichgestellt sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Innerhalb der Familie hat das Alter Vorrang, während in der Gesellschaft nicht das individuelle Alter, sondern die Stellung der Familie als Gruppe den sozialen Status bestimmt.
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Literaturverzeichnis
• Hayatullah, A.: Die wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme Afghanistans. Nürnberg 1967
• Krause, W.: Afghanistan. Tübingen und Basel 1972
• Klimburg, M.: Afghanistan. Wien 1966
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Anschrift des Verfassers:
Kabir Stori
Präsident der PSDP
Dipl.-Psychologe
Kaygasse 1
5000 Köln 1
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PAKHTOON Magazin
Gründer: Bacha Khan
Deutsche Ausgabe: Nr. 1 – Dezember 1981
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Herausgeber:
Pashtoons Social Democratic Party (PSDP)
c/o Ali Khan Masoud
Vorsitzender des Presseausschusses der PSDP
Goebenstraße 11
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